Unternehmen haben eine Verfassung
Zur Integration von Mitarbeitern & Flüchtlingen
Wann sprechen wir in Unternehmen wirklich mal über die wirklich wichtigen und fast selbstverständlichen Dinge wie z.B die Unternehmensverfassung? — Sehr selten!
Dabei wäre es doch gut, alle Mitarbeiter und insbesondere Flüchtlinge, die aus einem gänzlich anderen Kulturkreis in unser Land kommen, Orientierung zu geben. Dieser Artikel zeigt auf, welche Möglichkeiten Sie in Ihrem Unternehmen haben, für eine gelungene Integration im Betrieb zu sorgen.
Und wer weiß? Vielleicht ist das für Ihre Stamm-Belegschaft auch eine sinnvolle Initiative, bei der sie sogar aktiv mitwirken kann?
Unternehmensverfassung – Was ist das überhaupt?
Die Verfassung eines Unternehmens ist vergleichbar mit der Verfassung eines Landes, nur dass sie das Unternehmen und nicht den Staat beschreibt:
Die Unternehmensverfassung ist die Gesamtheit aller konstitutiven und langfristig angelegten Regelungen für Unternehmen; besonders im Hinblick auf die innere Ordnung. Diese ist notwendig, damit die Unternehmung ihre Aktivitäten auf die Unternehmensziele ausrichten kann.
Die in der Unternehmensverfassung verankerten Regeln und Normen sind relativ frei vereinbar und nur durch geltende rechtliche Rahmenbedingungen beschränkt.
Die konkreten Inhalte der Unternehmensverfassung umfassen mindestens den allgemeinen Unternehmenszweck (Bedarfsbefriedigung von Käufern), die Unternehmensorgane und Organisationseinheiten und schließlich Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder.
Anlässe, über die Unternehmensverfassung zu sprechen
Wozu sollte es gut sein, über die Unternehmensverfassung zu sprechen? Anlässe gibt es genug:
- Mitarbeiter sind so auf die Arbeit fokussiert, dass der Überblick verloren geht
Es ist nicht selbstverständlich, dass Mitarbeiter wissen, wie ein Unternehmen tickt und welche Einflussmöglichkeiten bestehen, um z.B. gute Ideen und eigene Anliegen zu Gehör zu bringen. Und es kann sein, dass sich Zusammenspiel und Einflusssphären im Unternehmen verändert haben und der Überblick verloren gegangen ist. - Mitarbeiter sind resigniert und müssen wieder gewonnen bzw. „re-integriert“ werden. Es wäre sinnvoll, diesen Mitarbeitern zu zeigen, wo und wie sie sich besser in die Leistungsgemeinschaft einbringen können.
- Flüchtlinge müssen sich gänzlich neu orientieren
im Land, in der örtlichen Gemeinde, im sozialen Umfeld und selbstverständlich auch im Unternehmen. Auch sie müssen erfahren wo und wie sie sich eingliedern können. - Im Unternehmen läuft momentan nicht alles rund
Sie könnten die Gelegenheit ergreifen, mit Ihren Mitarbeitern zu diskutieren, welche Änderungen sinnvoll sind, um für zukünftige Herausforderungen besser gewappnet zu sein.
Elemente der Unternehmensverfassung
Eine Organisation kann mit einem Organismus verglichen werden. So gibt es konstituierende Elemente wie z.B. Organe, Blut- und Nervenbahnen, Gehirn, Muskeln, Botenstoffe usw. An dieser Stelle mache ich auf das Modell von Stafford Beer aufmerksam, das Viable System Model (VSM).
In diesem Artikel möchte ich mich auf folgende 10 Elemente der Unternehmensverfassung konzentrieren, die im nächsten Kapitel einzeln hinterfragt werden.
Die Elemente der Unternehmensverfassung im Detail
Ich stelle zu jedem Element der Unternehmensverfassung Fragen und gebe Anregungen, die Ihnen helfen, diese Elemente Mitarbeitern gegenüber vorzustellen und zusammen mit Mitarbeitern, Führungskräften und Flüchtlingen zu erörtern:
- Unternehmenszweck & Unternehmensmodell
Der Unternehmenszweck bzw. der Zweck eines Geschäftsbereichs aus Kundensicht formuliert benötigt nur 2 bis 3 Sätze mit ca. 25 Worten. Welche Mitarbeiter könnten diesen innerhalb von nur ein paar Sekunden fehlerfrei nennen? Welche Führungskräfte können das? Ist er überhaupt jemals formuliert worden? Können alle Ihre Mitarbeiter das Geschäftsmodell verstehen und auch beschreiben? - Organe des Unternehmens
Welche Rechtsform hat Ihr Unternehmen und welche gesetzlichen Organe ergeben sich daraus? — Aufsichtsrat, Gesellschafterversammlung, Vorsitz der Geschäftsleitung, Vorstände usw.? Wer besetzt diese Positionen und welche Einflüsse haben die einzelnen Akteure? Was sind Ihre Aufgaben und Ziele? Welche Arbeitsbereiche gibt es? - Strukturen des Unternehmens
Wie sieht das Organigramm Ihres Unternehmens aus? Wie viele Ebenen hat die Hierarchie? Wozu wird die Hierarchie benötigt? Welche informellen Netzwerke gibt es im Unternehmen (z.B. Mentoring-Netzwerke, Peer-Groups, Innovationszirkel uvm.)? Wie ist die Wertschöpfungskette gestaltet und wer wirkt wie zusammen? - Organisations- & Kollaborationsprinzipien
Welche Prinzipien der Kollaboration und welche Prinzipien der Organisation existieren? Gibt es überhaupt welche? Warum gibt es sie? Sind sie noch immer sinnvoll? Was sollen sie bewirken? - Gremien & Besprechungen
Wann werden wo welche Entscheidungen wie herbeigeführt und getroffen? Welche Menschen aus welchen Arbeitsbereichen sind beteiligt? Wie lauten die Voraussetzungen zur Teilnahme? Wie sind die Besprechungen strukturiert? Sind die Besprechungen in der heutigen Form und Häufigkeit und mit den heutigen Beteiligten noch sinnvoll? Findet wichtiger Infoaustausch auf dem Flur statt? - Entscheidungsprozesse & -verfahren
Wie kommen Entscheidungen zustande? Welche Verfahren gibt es, um die Entscheidungen zu treffen? Wann gibt es hierarchische Verfahren wie z.B. den konsultativen Einzelentscheid und wann und wozu werden demokratische Verfahren verwendet? Gibt es Wahlen? Werden Entscheidungen in Sitzungen getroffen oder eher auf dem Flur, am Kaffeepott oder in der Raucherecke? Benötigen Prozesse und Verfahren eine Aktualisierung? - Kontrolle & Steuerung
Wie wird das Unternehmen gesteuert? Wer ist wie beteiligt? Steuern nur die Buchhalter oder gelingt auch die Ausrichtung am Markt? Welche Leitlinien helfen bei der Wahl der richtigen Richtung? Ist Feedback erwünscht und wird es ernst genommen? An welchen Stellen wird regelmäßig und strukturiert reflektiert? Auf welchen Hierarchieebenen? Auch zwischen den Hierarchieebenen? Welche Informations- und Eskalationssysteme existieren? Ein „Botenstoff“ guter Steuerung ist übrigens positive Energie. Wie ist es um sie bestellt? - Rollen & Zuständigkeiten
Wie werden Rollen und Zuständigkeiten definiert? Welche Rechte und Pflichten ergeben sich aus ihnen? Wie stehen Rechte und Pflichten zueinander? Wie sorgt man für Balance? - Regeln & Normen, Art & Weise der Problemlösung
Welche sonstigen Regeln und Normen gibt es? Wo finden Mitarbeiter diese? Gibt es ungeschriebene Regeln? Wie lauten diese? Gibt es irgendwo eine Beschreibung, über Ihre Arbeitskultur, die beschreibt, wie Ihr Unternehmen tickt und welche Marotten es gibt? Gibt es irgendwo eine Beschreibung, über Ihre Arbeitskultur, die beschreibt, wie Ihr Unternehmen tickt und welche Marotten es gibt? Wie liberal, offen oder auch hierarchisch ist Ihr Unternehmen? Wie geht man mit Fehlern um? Wie ist der Umgang mit Emotionen? Gibt es eine Kleiderordnung? Wer bietet wem das Du an? Und noch viel wichtiger: Wie wird in Ihrem Unternehmen gearbeitet? Wie werden Probleme gelöst? Wie kommen Mitarbeiter zur Selbständigkeit? Was ist Ihr Spirit im Unternehmen? Was macht Sie einzigartig? - Ethik, Werte & Leitbild
Für welche Werte steht das Unternehmen im Inneren wie nach außen? Gibt es einen Ethik-Codex, dem sich das Unternehmen verpflichtet fühlt? Welches Menschenbild und welchen Traditionen hat sich das Unternehmen auf die Fahne geschrieben? Gibt es ein normatives Leitbild? Was besagt es? Wie wird es tagtäglich umgesetzt? Welche Werte lassen sich klar benennen? Werden diese durch Auseinandersetzung und Diskussionen am Leben erhalten?
Selbstverständlich ist die Liste der Fragen nicht vollständig. Sie dient aber als gute Anregung, sich mit der Unternehmensverfassung zu beschäftigen. Doch wie können Sie nun mit der Liste der Fragen weiter verfahren? Bevor ich dazu komme, noch ein Blick aus einer anderen Perspektive.
Was vielen von uns nicht klar ist
Vieles, was wir in Deutschland für selbstverständlich halten, ist nicht selbstverständlich! Damit meine ich vor allem kulturelle Errungenschaften. Die Liste dieser Errungenschaften, auf denen unsere Unternehmensverfassungen basieren, ist beachtlich lang und seit Jahrhunderten gewachsen, teilweise hart oder sogar blutig erkämpft. Wie soll man diese vielen Errungenschaften verstehen, wenn man sie selbst nicht hat erleben können, sie nicht ganz verständlich sind oder schlicht die Zeit fehlt, sie zu erklären:
- „Rationales Denken“, „Vernunft“ und Forschung aus der Zeit der Aufklärung
- Humanistischen Menschenbild
- Trennung von Staat und Kirche
- religiöse Toleranz
- Gewaltenteilung
- Demokratie
- Soziale Marktwirtschaft
- Handlungsfreiheit
- Bildung, Bürgerrechte, Gleichberechtigung
- allgemeine Menschenrechte
- uvm.
In Zeiten der notwendigen Integration von Flüchtlingen — da sie ja nun schon hier sind — kann es nützlich sein, wichtige Rahmenbedingungen für unser Wirtschaften zu erklären und darauf hinzuweisen, nach welchen dieser Prinzipien ein Unternehmen im Inneren funktioniert. Und auch, was das Gute an diesen kulturellen Errungenschaften ist, z.B. der Reichtum unseres Landes. Wohlgemerkt: Nicht nur Flüchtlinge benötigen diese Darstellung!
Ideen für gelingende Integration im Unternehmen
Zurück zur Liste der Fragen: Sie ist Ausgangspunkt für die innerbetriebliche Auseinandersetzung mit der Unternehmensverfassung zur Integration von neuen Mitarbeitern und Flüchtlingen. Dazugehörige Antworten werden sicherlich nicht für eine gelingende Integration ausreichen. Daher ein paar zusätzliche Ideen:
- Beziehen Sie Ihre Mitarbeiter ein und sorgen Sie für dafür, dass sich alle Teilnehmer auf Augenhöhe begegnen — egal ob Mitarbeiter, Flüchtling oder Führungskraft. Bilden Sie dazu kleine gemischte Arbeitsgruppen. Jede Arbeitsgruppe nimmt sich ein Element der Unternehmensverfassung vor, sammelt Informationen, diskutiert und bereitet sie auf.
- Lassen Sie die Mitarbeiter Schautafeln und Symbole erstellen, bevor zu viel Text zusammengeschrieben wird. Das liest sowieso kaum jemand.
- Sorgen Sie dafür, dass Beschriftungen evtl. auch in Englisch oder anderen Sprachen verfügbar sind, so dass sich insbesondere Flüchtlinge noch leichter informieren können. Vielleicht gibt es unter den Mitarbeitern oder deren Bekannten bzw. Familienmitglieder Menschen, die behilflich sein können.
- Schaffen Sie einen (zentralen, geschützten) Platz, wo all diese Dinge dargestellt werden. Ich denke an eine kleine Ausstellung, z.B. einen Marktplatz.
- Auf diesem Marktplatz können Mitarbeiter aus den unterschiedlichen Arbeitsgruppen Ihre Ergebnisse ausstellen und stehen für Fragen und Diskussion zur Verfügung. Noch besser: Die Mitarbeiter stellen selbst Fragen oder veranstalten ein Quiz.
- Geben Sie dem nicht digitalen Marktplatz einen festlichen Rahmen, z.B. während einer Grillparty oder einer Betriebsversammlung. Sorgen Sie für Verpflegung und Geselligkeit.
- Lassen Sie die Ausstellung eine gewisse Zeit lang stehen, damit diese immer wieder zur Orientierung aufgesucht werden kann.
- Sorgen Sie dafür, dass Mitarbeiter stolz auf Ihre Arbeitsergebnisse sind und auf das Unternehmen in dem sie Arbeiten, auch wenn nicht alles perfekt ist. Weder die Arbeitsergebnisse brauchen perfekt zu sein, noch das Unternehmen. Kein Unternehmen ist perfekt.
- Auch ein digitaler Marktplatz wäre möglich, angereichert mit Fotos oder selbst erstellten Videos, die kurz das wichtigste erklären — zugänglich z.B. über einen Blog oder ein Firmen-Wiki. Die Arbeitsergebnisse können danach digital weiterentwickelt und aktuell gehalten werden.
Klar ist, dass die tägliche Arbeit, verbunden mit guter Einweisung natürlich auch ein Teil von Integration leistet, aber sie bietet oftmals nicht den Kompass, der aufzeigt, warum eine bestimmte Arbeit im Unternehmen auf bestimmte Art verrichtet werden soll. Die Unterhaltung über unsichtbaren Regeln hilft bei der Orientierung ungemein.
Es geht nicht um Perfektion – Es geht um Beziehung
Es geht nicht um das Ergebnis, sondern um den zwischenmenschlichen Prozess und die Erlebnisqualität bis zum Zeitpunkt der Marktplatzveranstaltung. Über diesen Weg kommen Unternehmensangehörige unterschiedlicher Ebenen miteinander über wichtige Dinge, des gemeinsamen Lebens und Schaffens in Beziehung. Kontakte entstehen, Mitarbeiter lernen sich besser kennen und wichtige Erkenntnisse reifen. Bestenfalls wird das Wir-Gefühl gestärkt. Möglicherweise entstehen informelle Netzwerke, Peer- und Interessengruppen, von denen das Unternehmen langfristig profitiert.
Vielleicht entstehen daraus sogar wichtige Impulse für die Organisationsentwicklung. Auf jeden Fall sollten Sie versuchen, Mitarbeiter für Ihr Unternehmen zu vereinnahmen. Im positiven Sinne. Vermitteln Sie Sinn und Perspektive. Damit gelingt Identifikation leichter…
…und es entstehen engagierte Unternehmensbürger!
Nutzen aus der Beschäftigung mit der Unternehmensverfassung
So nützlich die Beschäftigung mit der Unternehmensverfassung unter der Beteiligung von Mitarbeitern ist, so klar ist auch, dass Wünsche nach Änderung aufkommen können.
Jetzt hängt es davon ab, wie die Unternehmensleitung damit umgeht. Sie sollte sich Änderungen nicht vollends verschließen, insbesondere wenn Änderungen sinnvoll erscheinen. Ansonsten könnte sich eine gewisse Resignation unter Mitarbeitern und Führungskräften ausbreiten.
Sinn und Perspektive und die Beseitigung von betrieblichen Motivationshemmnissen führen dazu, dass bei Mitarbeitern „zugeschüttete“ Motivation wieder freigelegt wird. Orientierung an etwas Wichtigem und Bedeutsamen wird wieder möglich. Energie wird freigesetzt. Menschen gehen Ihrer Motivation nach — zum Wohle aller und zum Wohle des Unternehmens. Die Vitalität des Unternehmens nimmt zu. Anpassungen an den Markt gelingen leichter.
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