Ich-Entwicklung

Warum Führung ohne Ich-Entwicklung nicht möglich ist

Ich-Entwicklung als Voraussetzung für agile Führung

Eine Person, die sich bewusst entwickeln will, also zur Ich-Entwicklung in der Lage ist, verfügt bereits über ein bestimmtes Maß an persönlicher Reife. Ohne diese Reife mangelt es an Reflexion der eigenen Person, einem konstruktiven Umgang mit Feedback, einem offenen Umgang mit Fehlern und damit an der Fähigkeit, das eigene Handeln bewusst zu beeinflussen.

Was ist persönliche Reife?

Nach Jane Loevinger lassen sich ähnlich wie bei Clare W. Graves mit seinen Werte-Ebenen (→ Artikel zu 9-Levels) ebenfalls 9 Stufen der Ich-Entwicklung unterscheiden, denen jeweils vier Beurteilungsbereiche zugrunde liegen:

  • Charakter
    Wie unabhängig ist eine Person von der Meinung, dem Einfluss und den Erwartungen anderer? Erst ab Stufe 6 (grüne Stufe, siehe Tabelle unten) werden eigene Maßstäbe entwickelt und somit Selbstregulierung möglich.
  • Interpersoneller Stil
    Wie gut ist die Beziehungsarbeit zu Menschen, die sich auf anderen Entwicklungsstufen befinden und andere Meinungen und Perspektiven einnehmen.
  • Bewusstseinsfokus (vgl. echtes Interesse und Empathie)
    Wie gut können Teammitglieder innere und äußere Bewusstseinsprozesse wahrnehmen, reflektieren und in Handlungen übertragen? Dabei gilt auch hier, dass erst höhere Entwicklungsstufen daran Interesse zeigen, sich selbst und andere weiter zu entwickeln und daher mit Kritik zunehmend konstruktiv umgehen.
  • Kognitiver Stil
    Inwieweit wird eine Person durch feste Überzeugungen oder eher durch multiperspektivisches Denken und Handeln gesteuert, das mehrere Wahrheiten zulässt?

Persönliche Reife besteht nach Loevinger also nicht nur aus dem Erlernen bestimmter Fähigkeiten, sondern aus der Veränderung der oben genannten 4 Bereiche. Diese sagen mehr über das Führungsverhalten aus als sonstige Eigenschaften einer Führungskraft.

Die eigene Entwicklung als Führungskraft oder Mitarbeiter unterliegt mehrfachen Veränderungen, die über verschiedene Stufen zu immer größerer Bewusstheit führen. Das ICH („I“) ist nicht eine feste Bestandsgröße, sondern nach Loevinger ein Bewusstseinsstrom, der Gedanken und Erfahrungen eines Menschen immer wieder neu organisiert. Neben dem Ich gibt es das SELBST („Me“), das in der Lage ist, die eigene Identität zu reflektieren (vgl. William James „I“ and „Me“). Je reifer eine Person wird, desto besser gelingt die Reflexion des Ich und desto mehr Freiheitsgrade erhält sie für das eigene Fühlen, Denken und Handeln. Diese Freiheitsgrade sind notwendig für das Handeln im agilen Umfeld, wie ich weiter unten noch ausführe.

Torbert und Rooke haben aufbauend auf Loevinger Stereotypen entwickelt, die man den einzelnen Entwicklungsstufen zuordnen kann und u.a. durch ihre Handlungslogik und zentrale Motivation verallgemeinert beschrieben sind. Natürlich sind die Typbeschreibungen sehr klischeehaft und in der Realität nicht in Reinform anzutreffen. Ganz rechts in der Tabelle ist ausgewiesen, wie sich diese Stereotypen 2005 einer Studie zufolge prozentual auf die Bevölkerung der westlichen Welt verteilt haben. Aktuellere Zahlen liegen nicht vor.

Quelle: angelehnt an Abbildung aus „Agiler führen“ von Svenja Hofert

Wie gelingt der Weg der Ich-Entwicklung?

1. Aufnahme & Verinnerlichung

Kein Reifegrad kann übersprungen werden. Das Verbleiben auf einer Entwicklungsstufe ist oft dadurch bedingt, dass externe Reize zur Weiterentwicklung fehlen, z.B.: Begegnungen mit anderen Menschen, Herausforderungen, anspruchsvolle Bücher, Beratung, Feedback, Coaching usw. Das bedeutet, dass der Weg der Selbstführung umso besser gelingt, je mehr Anregungen eine Person erhält. Dabei ist der Weg durch 2 Phasen gekennzeichnet, wie auch die Unterteilung der Tabelle oben zeigt:

  • Die Reise zum eigenen Ich als Freiheit von den anderen (E4–E6)
  • Die Reise vom eigenen Ich als Freiheit von den eigenen Unzulänglichkeiten (E7–E8)

Teil dieser Reise sind oft 2 Schritte:

  • Neues aufnehmen (Introjektion)
    Zunächst geht es um die ungeprüfte oder unreflektierte Übernahme von Wissen, Einstellungen, Denk- und Handlungsweisen (z.B. durch Schulungen, Seminare, Trainings), die aber noch nicht innerlich angenommen wurden. Das Angelernte bleibt emotional und/oder rational zunächst ein Fremdkörper und wird oft als aufgesetzt (als nicht echt) erlebt, z.B.: Eine Person überspielt eine unangenehme Situation durch angelernte Verhaltensweisen, verrät sich aber später durch widersprüchliches Tun.
  • Annahme, Verarbeitung und Verinnerlichung (Assimilierung)
    Anders verhält sich eine Person, wenn es ihr gelingt, Erlerntes anzunehmen und zu ihrer Sache zu machen. Sie hat das Erlernte ausprobiert, bestimmte Anteile für gut befunden, übernommen und verinnerlicht, andere Teile dagegen verändert oder aussortiert. Das, was übrig bleibt, hat die Person verinnerlicht.

2. Störungen der Ich-Entwicklung

  • Projektion
    Projektion bezeichnet einen Abwehrmechanismus, der negativ erlebte eigene Anteile innerlich abspaltet und auf eine andere Person projiziert. Dort kann das bei sich selbst als unliebsam empfundene Verhalten (das gegen eigene und gesellschaftliche Normen verstößt) leichter bekämpft werden. Beispiel: „Deine Unordnung finde ich schlimm“, wobei der Sprecher die Unordnung bei anderen bekämpft und selbst die eigene Unordnung ausblendet.
  • Ich-Projektion
    Die Ich-Projektion ist die Überhöhung des eigenen Fühlen-Denken-Handelns, die gleichzeitig mit der Abwertung des Fühlen-Denken-Handelns einer anderen Person einhergeht. Damit ist oft unsichtbar der Wunsch verbunden, die andere Person möge endlich genauso fühlen, denken und handeln wie die eigene Selbstherrlichkeit. Beispiel: Eine analytisch veranlagte Person, die dazu neigt Theorien über die reale Welt anzustellen, gibt sich überheblich gegenüber praktisch veranlagten Menschen, die für Theorien wenig übrig haben. Genauso umgekehrt: Ein Praktiker fühlt sich einem Theoretiker überlegen. Es geht also immer um die Überhöhung der eigenen Person, einhergehend mit der Abwertung des Gegenübers. Beide Verhaltensweisen sind natürlich idiotisch, denn beide brauchen sich gegenseitig und müssen sich die Welt des anderen allmählich erschließen.

3. Störungen mit Werten überwinden

Um (Kontakt-)Störungen überwinden zu können, wäre es gut, sich möglichst vieler eigener Gefühle, Empfindungen und Verhaltensweisen gewahr zu werden, die für den befriedigenden Austausch mit der Umwelt hinderlich sind. Auch eigene Bedürfnisse in Bezug auf Beziehungen zu anderen Menschen sollten bewusst werden, um über diesen Weg sowohl Projektion als auch Ich-Projektionen zu überwinden und die weitere Ich-Entwicklung zu ermöglichen. Ein Coach kann dabei helfen. Einen vielleicht einfacheren Weg kann man über Werte-Arbeit erreichen.

Beispiel:
Eine Führungskraft, die stets aus einem starken Macht-Motiv heraus handelt und seine Ich-Projektion „Ich bin ein durchsetzungsstarker Kämpfer, der anderen überlegen ist“ überwunden hat, entwickelt den Wert Kooperation. Wertschätzung und Augenhöhe können entstehen. Nun lässt er Meinungen der Teammitglieder eher gelten und weiß sie sogar als Bereicherung  zu schätzen — sofern Mitarbeiter nicht selbst von einer Ich-Projektion wie „Mein Chef ist ein Schwächlich, weil er sich nicht durchsetzen und entscheiden kann“ befallen sind. Niemand ist frei von Ich-Projektionen. Niemand. Unser Alltag ist voll davon.

Unter Zuhilfenahme des von Nicolai Hartmann entwickelten Werte- und Entwicklungsquadrates kann das richtige Maß zur Auflösung von Ich-Projektionen gefunden werden, ggf. mit einem Coach.

Werte-Entwicklungsquadrat - Ich-Entwicklung

4. Der Weg zur Einsicht

Es gibt drei wesentliche Wege, um Einsicht in sein eigenes Verhalten zu bekommen und die daraus resultierenden Wirkungen einschätzen zu können:

  • Ausprobieren
    Das eigene Arbeits- und Wirkungsumfeld bietet alle Voraussetzungen um herauszufinden, was geht und was nicht. Die Reaktionen des Umfelds zeigen an, welche Verhaltensweisen willkommen sind, welche neutral aufgenommen werden und welche Ablehnung erfahren. Selbstverständlich setzt das ein gewisses Maß an Sensibilität voraus, um Signale des Umfelds aufzunehmen und richtig einzuordnen.
  • Schulungen
    Schulungen und Seminare erzeugen Irritation: Teilnehmer erlernen Neues, das im Widerspruch zu bisherigen Sicht-, Denk- und Verhaltensweisen steht. Durch Seminare werden nicht neue Verhaltensweisen erlernt, sondern eher neue Erkenntnisse generiert, die erst noch verinnerlicht werden müssen. Seminarinhalte sind wichtige Impulse, um Ich-Projektionen abzubauen — wenn auch indirekt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es sich nicht so sehr um Expertenwissen handelt, das in die Tiefe geht, um Stärken zu stärken, sondern um Inhalte, die in der Breite für das Aufzeigen blinder Flecken sorgen.
  • Rückmeldung (Feedback)
    Rückmeldung anzunehmen will gelernt sein, denn bei einer geringen persönlichen Reife ist man auf die Rückmeldung anderer angewiesen, um zu erkennen, welche Verhaltensweisen hinderlich sind. Unangenehme Rückmeldung für sich persönlich anzunehmen ist zudem schmerzlich. Voraussetzung für einen positiven Umgang mit Rückmeldungen ist, dass man sich „Ja, aber“-Spielchen abgewöhnt, hinter denen man sich vor der Wahrheit zu verstecken sucht. Je mehr es jedoch gelingt, höhere Entwicklungsstufen zu erklimmen, desto leichter tut man sich mit Feedback. Es wächst sogar die Erkenntnis, dass es ohne Feedback viel schwieriger ist, an sich zu arbeiten. Rückmeldung wird zunehmend geschätzt und aktiv eingeholt.
  • Reflexion
    Die Reflexion durch das Selbst ermöglicht es, Erkenntnisse über das Ich zu gewinnen und auf diese Weise mit sich selbst besser in Beziehung zu kommen. Gelerntes kann bei entsprechender Motivation aufgearbeitet und verinnerlicht werden. Persönliche Reflexion ist eine Bedingung dafür, dass Feedback verarbeitet (assimiliert) wird. Die Fähigkeit zur Reflexion wächst mit dem Erreichen höherer Entwicklungs- bzw. Reife-Stufen. Führungskräfte, die agiler führen wollen, benötigen institutionalisierte Reflexionsgelegenheiten.

Selbstreflexion zur Ich-Entwicklung - SL Beziehungsarbeit

Feedback und Reflexion bedeuten selbstverständlich nicht, dass alle bisherigen Denk- und Verhaltensweisen schlecht waren und einer Anpassung bedürfen. Über Reflexion können bisherige Denk- und Verhaltensweisen auch Wertschätzung erfahren. Vielleicht ist nicht alles super, aber doch das eine oder andere gut genug, um damit durchs Leben zu kommen. So kann es gelingen, mit selbst empfundenen Schwächen seinen Frieden zu machen und mit ihnen offen umzugehen. Innere Konflikte können auf diese Weise aufgelöst werden.

Wer auflöst, lässt los.

Projektion und Ich-Projektionen nehmen ab, Kooperation nimmt zu und ein erwachsenes Verhalten stellt sich ein. Das Nachgeben im Rahmen eines Konflikts kann situativ angemessenen als Option angesehen werden und ist nicht länger ein Ich-Verlust.

Die erlösende Erkenntnis, dass jede Beziehung in Wahrheit eine Begegnung mit sich selbst bedeutet, bewirkt eine regelrechte Revolution im Leben.

Durch Ich-Entwicklung zur Agilität

Wie wir gesehen haben, ist die Ich-Entwicklung ein Reifungsprozess zu immer höheren Entwicklungsstufen (Loevinger) bzw. Werte-Ebenen (9 Levels). Um eine agile Arbeitswelt zu realisieren, braucht es Menschen mit entsprechender Reife. Nämlich mindestens das entsprechende Können aus den Ebenen blau, orange und grün: PlanungMarktausrichtungstrategisches Handelnselbständige Mitarbeiterdie Unterschiedlichkeit von Akteuren nutzenErfahrungslernenReflexion und Austausch. Hinzu kommen nach weiterer Entwicklung im Level gelb : situatives Einsetzen von Strukturen bzw. Netzwerkern und Könnernmultiperspektivisches Denken und Handeln, hohe Selbstorganisation, Sinn.

Svenja Hofert schreibt in ihrem Buch „Agiler führen“, dass folgende Werte die Grundlage für agiles Arbeiten bilden:

  • Commitment (Selbstverpflichtung)
    Die Selbstverpflichtung resultiert aus einem hohen Selbstverantwortungsgefühl gepaart mit Können. Beides entspringt nicht nur der fachlichen, sondern auch der persönlichen Reife.
  • Feedback
    Die Rolle des Feedbacks habe ich schon erläutert.
  • Kommunikation
    Die Güte der persönlichen Kommunikation gewinnt mit der persönlichen Reife, weil zunehmend differenziert und sachlich argumentiert werden kann, ohne Begleitschäden zu verursachen wie z.B. Kränkungen. Meta-Kommunikation wird selbstverständlicher.
  • Fokus
    Auch durch die bessere Kommunikation gelingt ein sachorientierteres und damit konzentriertes Arbeiten, weil die Beziehungsebene zwischen Akteuren entweder bewusst geschützt wird oder aber schnell und effektiv bereinigt wird.
  • Mut
    Mut ist dort ausgebildet, wo weniger Ängste wegen vermeintlicher oder echter — vor allem mentaler — Abhängigkeiten bestehen. In höheren Entwicklungsstufen haben sich Menschen von diesen inneren Abhängigkeiten befreit und können freier agieren und wagen Neues. Der Umgang mit eigenen Fehlern ist nicht nur enttabuisiert, sondern notwendig. Auch das erfordert immer wieder Mut.
  • Respekt
    Aus der Erkenntnis der eigenen Schwächen heraus (siehe Feedback und Reflexion oben), mit denen man Frieden geschlossen hat, gelingt auch der respektvollere, tolerantere und wertschätzendere Umgang mit anderen Menschen. Respekt ist die Mindestanforderung für agiles Arbeiten.

Fazit:

Die Prozesse der Selbsterkenntnis und Selbstreifung müssen die verschiedenen Stufen der Ich-Entwicklung durchlaufen, damit die Reife für agiles Arbeiten allmählich erreicht werden kann.

Durch Ich-Entwicklung zur agilen Führung

Führung ist ebenfalls ein Reifungsprozess, der je nach Reifegrad unterschiedliches Führungsverhalten ermöglicht. Dabei hat auch weniger reife Führung ihre Berechtigung in einem dazu passenden Umfeld.

Agile Führung ist eine Geisteshaltung, die es ermöglicht, andere machen zu lassen, statt selbst operativ einzugreifen. Wie oben beschrieben wurde, kann eine Führungskraft loslassen, die die Fähigkeit zur agiler Führung besitzt. Worin besteht dann noch Führungsarbeit?

Eine agile Führungskraft kann loslassen.
Worin besteht dann noch die Führungsarbeit?

Mit dem Loslassen ist das Zulassen verbunden, dass Personen mit „agilem Reifegrad“ sich selbst organisieren und Wertschöpfung selbständig erbringen. Der Führungskraft obliegen dann Aufgaben der Prozessbegleitung. Sie achtet darauf, dass ein interdisziplinäres Team in Balance bleibt z.B. bezüglich Arbeitslast, Verantwortungsübernahme, Aufteilung von Verantwortungs- und Kompetenzbereichen, Einbeziehung, Konfliktlösung, Selbstorganisation usw. Das ist möglich, weil eine Führungskraft mit agiler Haltung für diese Themen sensibilisiert ist, darin eine sinnvolle Aufgabe sieht und sich dieser aktiv widmen will.

Agile Führung entwickelt sich zu einer dienenden Führung aus dem Hintergrund mit Sinn vermittelnder, visionsorientierter und steuernder Funktion. Aber das ist nur eine Führungsrolle. Im agilen Umfeld werden im Sinne der Stärkenorientierung Führungstandems möglich. Eine weitere Führungsrolle übernimmt etwa das Aufbrechen etablierter Denkmuster und achtet auf faire Kommunikation.

Fazit:

Die Ich-Entwicklung für agiles Arbeiten erfordert die Reifung bis mindestens E6 (Loevinger) bzw. grün (9 Levels). Für Führungskräfte gilt allerdings, dass sie sich mindestens bis E7 / Level gelb entwickeln sollten, weil sie erst dann die Souveränität entwickelt haben, um Mitarbeiter selbständig bzw. selbstbestimmt wirken lassen zu können und um sich allen Entwicklungsstufen gegenüber wertschätzend zu verhalten.

Was wir für Sie tun können

Sollten Sie Fragen zum Thema agile Führung  bzw. agiles Arbeiten haben, so setzen Sie sich gerne mit uns in Verbindung. Wir begleiten Sie in Fragen der persönlichen Entwicklung, der Team-Entwicklung, als auch der Organisationsentwicklung.